WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Boris Pistorius: „Beschämend, wie sich Politik in die Büsche schlägt“

Deutschland Boris Pistorius

„Ich will 100 bis 200 unter 14-jährige Kinder nach Deutschland holen“

Korrespondent
Boris Pistorius will 100 bis 200 Kinder nach Deutschland holen

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius will 100 bis 200 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern nach Deutschland holen. Der Plan des SPD-Politikers stößt in anderen Bundesländern auf wenig Gegenliebe.

Quelle: WELT/ Thomas Laeber

Autoplay
Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) will nicht von seinem Vorstoß abweichen, minderjährige Migranten aus griechischen Flüchtlingslagern zu holen. Dabei soll es eigentlich eine europäische Lösung geben.

WELT: Herr Pistorius, Sie sind Ende vorigen Jahres auf die griechischen Inseln geflogen und haben sich die Flüchtlingslager dort angeschaut. Ihre Forderung, wenigstens einige Minderjährige dort rauszuholen, ist verhallt. War’s das jetzt?

Boris Pistorius: Ich bleibe an dem Thema dran. Kinder mitten in Europa in erbärmlichen Lagern völlig allein Krankheiten und Gewalt ausgeliefert zu lassen, kann ich nicht hinnehmen. Ich habe dort Ärzte getroffen, die gerade aus Kriseneinsätzen aus Afrika zurückgekommen sind und die Verhältnisse auf Lesbos als schlechter angesehen haben als dort. Die Reaktionen hier in Deutschland auf meinen Vorstoß waren teils zynisch. Es ist beschämend, wie sich die Politik in Teilen aus Angst vor rechter Stimmungsmache in die Büsche schlägt. Ich hoffe, dass wir es noch schaffen, wenigstens einige ganz junge Kinder von dort zu holen.

WELT: Viele haben darauf verwiesen, dass Deutschland dieses Problem nicht allein lösen könne, sondern die EU am Zug sei. Falsch?

Pistorius: Wenn alle immer darauf warten, dass alle mitmachen, tut am Ende niemand etwas. So hat sich jedenfalls seit meinem Besuch überhaupt nichts verbessert. Aber natürlich erwarte ich weiter, dass die EU endlich ihre Hausaufgaben macht. Dazu gehört als Ziel ein einheitliches europäisches Asylsystem mit Verteilquoten, Aufnahmezentren, effektivem Schutz der Außengrenzen und allem, was dazugehört. Eine Forderung, die ich seit Jahren erhebe.

"Die Reaktionen hier in Deutschland auf meinen Vorstoß waren teils zynisch", beklagt Boris Pistorius
"Die Reaktionen hier in Deutschland auf meinen Vorstoß waren teils zynisch", beklagt Boris Pistorius
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

WELT: Was tun?

Pistorius: Ich will 100 bis 200 unter 14-jährige Kinder nach Deutschland holen. Der Bund muss dem zustimmen, was er bislang nicht getan hat.

WELT: Auch die SPD und ihre Ministerpräsidenten halten sich da vornehm zurück.

Pistorius: Unser Ministerpräsident Stephan Weil hat das ebenso von Anfang an unterstützt wie meine Kollegen aus Thüringen und Berlin.

Lesen Sie auch

Anzeige

WELT: Viele Kritiker verweisen bei diesem Thema darauf, dass es auch in anderen Ecken der Welt viel Not und Elend und Kinder gibt, denen man helfen müsste. Was sagen Sie denen?

Pistorius: Das stimmt natürlich, kann aber im Umkehrschluss eben nicht heißen, dass man nirgendwo helfen sollte, wenn man nicht überall helfen kann.

WELT: Auf der anderen Seite der Zuwanderungspolitik, also da, wo es nicht um Hilfen geht, sondern zum Beispiel um Konsequenz gegenüber möglichen Gefährdern, hat Sie gerade das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gestoppt. Haben Sie Verständnis für dieses Urteil?

Pistorius: Die niedersächsischen Sicherheitsbehörden sind bis heute der Auffassung, dass von dem Göttinger Islamisten eine Gefahr ausgeht. Diese Einschätzung hat das Gericht nicht in derselben Ausprägung geteilt. Und richtig, es geht um beide Seiten der Medaille: Wir müssen einerseits die Menschen, die wirklich Hilfe benötigen, unterstützen. Auf der anderen Seite müssen wir sehr konsequent mit denjenigen umgehen, die sich nicht an die Regeln halten oder sogar eine Gefahr darstellen.

Lesen Sie auch

WELT: Welche Konsequenzen fordern Sie? Sollte man die Rechtsgrundlage verändern?

Pistorius: Nein. Wir haben ja auch schon Fälle gehabt, in denen es uns gelungen ist, Gefährder auf der Grundlage des Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes abzuschieben. Das sind unabhängige, höchstrichterliche Entscheidungen, mit denen wir leben müssen. Auch wenn wir es im Einzelfall anders sehen.

WELT: Als sie aus Griechenland wieder nach Hause kamen, hat die SPD in der Stichwahl Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu neuen Parteivorsitzenden gewählt. War das noch mal ein Schock für Sie?

Anzeige

Pistorius: Nein, das war ja absehbar angesichts der Stimmungslage und der ausgeprägten Anti-Establishment-Haltung innerhalb der Partei.

WELT: Esken und Walter-Borjans stehen in der SPD ziemlich exakt für das genaue Gegenteil von dem, was Sie und viele andere sozialdemokratische Minister und Ministerpräsidenten vertreten. Erzählen Sie mal, wie funktioniert das jetzt im politischen Alltag?

Pistorius: Das muss sich alles erst noch zurechtruckeln, wir stehen ja erst am Anfang. Die beiden sind gewählt, Anfang Februar wird es eine Vorstandsklausur geben, bei der viele Entscheidungen inhaltlicher und organisatorischer Art getroffen werden. Am Ende werden wir natürlich alle gut zusammenarbeiten – zum Wohle der SPD.

WELT: Wie kann das funktionieren angesichts des bisher eher erratischen Auftretens der beiden Vorsitzenden?

Pistorius: Erstens sind die beiden noch nicht einmal 100 Tage im Amt. Und zweitens habe ich ohnehin nicht vor, öffentlich Haltungsnoten zu vergeben.

WELT: Ihre Prognose: Hält die große Koalition durch bis zum bitteren Ende?

Pistorius: Davon bin ich überzeugt – und die neue Parteiführung ja mittlerweile offenbar auch.

WELT: Eine überraschende Entwicklung angesichts der eher auf einen Ausstieg aus der GroKo pochenden Auftritte von Esken und Walter-Borjans in den Regionalversammlungen. Empfinden Sie das als eine Art Wählertäuschung?

Pistorius: Eher als die Folge der Übernahme von Verantwortung. Ich habe nie so recht daran geglaubt.

WELT: Aber nach der Bundestagswahl, wann immer sie auch stattfindet, darf die SPD dann endlich in die Opposition?

Pistorius: Ich habe diese Sehnsucht nach einem Dasein in der Opposition nie verstanden. Unsere Aufgabe wird es sein, bei der nächsten Bundestagswahl besser abzuschneiden, als es die Umfragen gerade signalisieren.

WELT: Sollte die SPD einen Kanzlerkandidaten aufstellen?

Pistorius: Die SPD muss immer den Anspruch haben, den Kanzler zu stellen. Die Zeiten sind inzwischen so, dass man auch mit 23, 24 Prozent stärkste Partei in einem Dreierbündnis werden kann. Das ist erreichbar, wenn wir uns anstrengen. Insofern wäre es fahrlässig, keinen Kanzlerkandidaten aufzustellen.

WELT: Wer könnte das sein?

Pistorius: Darüber reden wir definitiv nicht jetzt.

WELT: Anderes Thema: Angesichts der Vielzahl von Drohungen, auch Angriffe auf Kommunalpolitiker – sollten sich zum Beispiel Bürgermeister, die keinen Anspruch auf Personenschutz haben, künftig bewaffnen können?

Bürgermeister will Waffe, um sich gegen Rechtsradikale zu verteidigen

Der Bürgermeister von Kamp-Lintfort, Christoph Landscheidt (SPD), hat seinen Wunsch nach einem Waffenschein geäußert. Er werde aus der rechtsradikalen Szene bedroht, und es habe Situationen gegeben, in denen die Polizei zu spät gekommen sei.

Quelle: WELT

Pistorius: Ich halte grundsätzlich nichts davon, dass Menschen sich bewaffnen, um sich besser wehren zu können. Und zwar unabhängig davon, ob sie ein Amt innehaben oder nicht. Alle Erfahrungen zeigen, dass die Gefahr, dass Menschen zu Schaden kommen, nicht geringer wird, sondern wächst, wenn man sich bewaffnet. Im Übrigen sind die wenigsten von uns so geübt im Umgang mit Waffen, dass ihr Besitz tatsächlich mehr Sicherheit bedeuten würde.

WELT: Und wie schützt man dann die Leute besser, die sich, häufig ehrenamtlich, für dieses Land engagieren und dafür immer häufiger – sei es verbal, sei es körperlich – attackiert werden?

Pistorius: Wenn es sich um Drohungen, Beleidigungen, Hass im Internet dreht – und darum geht es ja in den meisten Fällen–, setze ich auf die Initiative von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz …

WELT: ... die den Nutzern das Melden von Drohungen und Hassbotschaften erleichtern soll ...

Pistorius: ... und die wir aus Niedersachsen im Bundesrat noch ergänzen wollen. Es geht nicht, dass nur die sozialen Netzwerke wie Twitter oder Facebook zu mehr Transparenz und Beschwerdemöglichkeiten verpflichtet werden. Das muss auch für die Kommentarleisten und Chatfunktionen zum Beispiel von Spieleplattformen wie Twitch gelten, auf der zum Beispiel der Attentäter von Halle unterwegs gewesen ist.

WELT: Und zweitens?

Pistorius: Werden wir einen Antrag einbringen, der die Betreiber von Internetplattformen gesetzlich dazu verpflichtet, ihre User zu identifizieren. Das heißt ausdrücklich nicht, dass die Nutzer nur unter ihrem Klarnamen kommunizieren dürfen. Das soll jeder machen, wie er möchte. Es muss aber klar sein, dass jeder, der im Internet die Grenzen des Strafrechts überschreitet, leichter und schneller verfolgt werden kann. Den Behörden muss in solchen Fällen die Gelegenheit gegeben werden, Namen und Adresse des Nutzers zu erfragen, nicht nur die IP-Adresse. Es kann nicht sein, dass im Netz andere Regeln für den Umgang der Menschen miteinander gelten sollten als in der Kneipe oder auf dem Sportplatz.

WELT: Drohungen und Beleidigungen im Netz sind das eine. Konkrete körperliche Gewalt oder Schüsse auf ein Abgeordnetenbüro sind dann der nächste Schritt. Wie geht man damit um?

Lesen Sie auch

Pistorius: Das ist die – erwartbare – Weiterentwicklung der Verrohung der vergangenen Jahre und zeigt, wohin es führt, wenn man die Dinge laufen lässt oder sogar damit beginnt, sich an Gewaltandrohungen und Hassbotschaften zu gewöhnen. Begegnen können wir dieser Entwicklung nur, indem wir die Täter ermitteln und die Strafe möglichst auf dem Fuße folgt.

WELT: Ihre Partnerin, die niedersächsische Landtagsabgeordnete Doris Schröder-Köpf, hat gerade angekündigt, ab sofort gegen jegliche Drohung in den sozialen Netzwerken juristisch vorgehen zu wollen. Ist das der richtige Weg? Raten Sie das auch anderen Betroffenen?

Pistorius: Ja. Ich kann das nur jedem empfehlen. Das ist zwar eine erhebliche Herausforderung für Polizei und Justiz. Aber dann müssen wir, dann muss die Politik eben dafür sorgen, dass die Strafverfolgungsbehörden mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden.

Heftige Proteste wegen dramatisch überfüllter Flüchtlingslager

Offiziell leben auf den griechischen Inseln mehr als 40.000 Migranten. Die Lager sind dramatisch überfüllt. Aus der Bevölkerung formiert sich zunehmend Widerstand, der zuletzt in gewalttätigen Protesten in Athen gipfelte.

Quelle: WELT / Thomas Laeber

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema