Der Abend des 4. September 2015 war ein Wendepunkt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige österreichische Kanzler Werner Faymann hatten in einem Telefonat entschieden, dass sie einige Tausend Geflüchtete, die über Ungarn kamen, aus humanitären Gründen aufnehmen wollen. Bald waren es mehr als Zehntausend pro Tag.

"Wir schaffen das", hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel einige Tage zuvor in der Bundespressekonferenz gesagt – ein Satz von großer Tragweite, der einerseits europaweit für die deutsche Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen steht, andererseits für heftige politische Auseinandersetzungen sorgte. Das Zitat in Gänze lautete: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!"

In diesen Tagen jähren sich die historischen Ereignisse zum vierten Mal. ZEIT ONLINE nimmt dies zum Anlass, Bilanz zu ziehen. Wie viele Menschen sind tatsächlich nach Deutschland gekommen und wie viele sind geblieben? Was hat die Integration gekostet? Und wie steht es heute, vier Jahre später, um die Willkommenskultur?

Übersicht:

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Wie haben sich die Flüchtlingszahlen entwickelt?

In jenen Tagen im September 2015 ist der Münchner Hauptbahnhof ein Hotspot. Familien mit Babys und Kleinkindern, Alte, Kranke – Tausende kommen täglich an. Es fehlt an allem: Schlafplätze, Essen, Kleidung, geregelte Verfahren. Die Polizei ist im Dauereinsatz. Und das Elend rührt viele Einheimische. Sie helfen mit, begrüßen die Geflüchteten mit Geschenken, spenden Säcke voll mit Kleidung, organisieren Essen und Getränke und bieten Übernachtungsplätze an. Chaos herrscht auch vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, Lageso genannt. Hier warten bis zu tausend Menschen wochenlang in der Hitze. Das Lageso wird zum Symbol dafür, was schlecht läuft: überforderte Behörden, prügelnde Security, große Überforderung. Zu dieser Zeit ist nicht absehbar, wie viele Menschen kommen werden.

Eine Regierungsprognose vom August 2015 geht von 800.000 Neuankömmlingen bis Jahresende aus. Viele erwarten sogar 1,5 Millionen und mehr. Schon bald streiten sich die Parteien über den Umgang mit den Geflüchteten. Besonders heftig sind die Diskussionen zwischen CDU und CSU. Der damalige CSU-Chef Horst Seehofer fordert 2016 eine "Obergrenze" von nicht mehr als 200.000 Menschen pro Jahr. Und er will  "Ankerzentren", in denen Geflüchtete bleiben müssen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist, und in denen die Abgelehnten von dort aus direkt wieder abgeschoben werden können.

Vier Jahre später stellt sich die Bilanz wie folgt dar: Tatsächlich hat Deutschland 2015 eine der größten Einwanderungsbewegungen der Nachkriegszeit erlebt. Es kamen in jenem Jahr etwa 890.000 Menschen, diese Zahl lag also recht nah an der Regierungsprognose von August. Weil die Behörden damals überfordert waren, konnten 2015 aber nur weniger als 500.000 Menschen einen Asylantrag stellen, ein Jahr später stieg die Zahl der Antragssteller auf 750.000. Dabei waren 2016 weniger Menschen gekommen, viele die schon 2015 eingereist waren, konnten aber erst dann ihren Antrag stellen. Ende 2018 lebten insgesamt knapp 1,7 Millionen Schutzsuchende in Deutschland, dazu zählen Asylbewerber sowie Asylberechtigte und abgelehnte Asylbewerber, einige von ihnen waren schon vor 2015 in der Bundesrepublik.

Die Abschottung Europas hat dazu geführt, dass bereits 2017 weniger als 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, seither sind die Zahlen weiter gesunken, 2018 wurden knapp 162.000 Asylerstanträge gestellt. Damit kamen zwar pro Jahr immer noch so viele Flüchtlinge nach Deutschland, wie eine Großstadt Einwohner hat. Man muss aber auch bedenken, dass jährlich rund 1,2 Millionen Menschen aus der Bundesrepublik abwandern. 

Die meisten Menschen kommen nach wie vor aus Syrien, gefolgt von Irak. Die Syrerinnen und Syrer haben die besten Chancen, zu bleiben, über 90 Prozent von ihnen erhalten Flüchtlingsschutz.

Weil weniger Menschen kommen und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stark ausgebaut wurde, ist auch die Bearbeitungsdauer der Asylanträge deutlich gesunken. Im Schnitt wird binnen sechs Monaten über ein Gesuch entschieden, viele der Menschen, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, mussten noch länger als 18 Monate warten.

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Wie läuft die Integration auf dem Arbeitsmarkt?

2018: Ein Auszubildender aus Nigeria arbeitet in einer Bäckerei in Reutlingen. © Thomas Niedermueller/​Getty Images

Noch immer sind junge Männer unter 30 Jahren die größte Gruppe unter den Neuankömmlingen, außerdem Kinder und Jugendliche. Migrationsforscherinnen und -forscher sehen darin eine große Chance für den deutschen Arbeitsmarkt, wo vielerorts Arbeits- und Fachkräfte gesucht werden. Einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zufolge können junge Geflüchtete oft auf ihrer beruflichen Vorbildung aufbauen, zudem hätten viele eine "hohe Arbeitsmotivation und ausgeprägte Bildungsmotivation". Ganz zu schweigen von den Minderjährigen, die schon deshalb gute Chancen auf einen Job haben, weil sie das deutsche Bildungssystem durchlaufen. Zudem haben die Menschen aus Syrien und Irak häufig ein hohes Bildungsniveau, was die Integration leichter macht. All das sind gute Nachrichten für den Arbeitsmarkt. Und so erstaunt es nicht, dass der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) Detlef Scheele berichtete, dass die Integration auf dem Arbeitsmarkt sogar besser als erwartet läuft.

Trotzdem ist die Beschäftigungsquote der Geflüchteten laut BA vier Jahre nach Beginn der großen Zuwanderung noch immer vergleichsweise niedrig. Aktuell liegt sie bei 28 Prozent. Politisches Ziel ist es, bis 2025 eine Beschäftigungsquote von 45 Prozent zu erreichen. Zum Vergleich: Die Beschäftigungsquote der Deutschen beträgt 62,4 Prozent. 

Flüchtlinge sind überdurchschnittlich häufig im Niedriglohnsektor tätig. Sie füllen eine Lücke, wo Arbeitskräfte fehlen. Das gilt nicht nur bei Jobs für Angelernte und Ungelernte (etwa in Lagerei und Logistik, in der Gebäudereinigung oder im Gastgewerbe), sondern auch auf dem Lehrstellenmarkt. Gut 40.000 Geflüchtete machen derzeit eine Berufsausbildung. Jeder Dritte der erwerbstätigen Geflüchteten arbeitet zudem in der Zeitarbeit. 

Zur Wahrheit gehört auch: Fast eine Millionen Menschen (992.166 Personen) beziehen immer noch Hartz IV, viele von ihnen sind zwar Kinder oder Senioren, doch immerhin eine halbe Million sind als arbeitssuchend gemeldet. Während die Arbeitslosenquoten im Mai für die Deutschen bei 4,8 Prozent und für alle Ausländer bei 12,3 Prozent lag, betrug sie bei den Geflüchteten 34,9 Prozent. 

Das Ankommen auf dem Arbeitsmarkt dauert also. Aber Arbeitsmarktforscherinnen und Arbeitsmarktforscher hatten genau das erwartet. Der Grund dafür ist: Trotz verkürzter Bearbeitungsdauer ziehen sich die Asylverfahren, außerdem müssen oft die Sprache erlernt sowie Schul- oder Berufsabschlüsse anerkannt oder nachgeholt werden. Die Chancen stehen aber gut, dass sich die Zahlen in Zukunft verbessern werden. Denn laut einer IAB-Studie finden über 50 Prozent der Zugewanderten nach fünf Jahren einen Job. 

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Wie ist die Unterbringungssituation der Geflüchteten?

Auch was die Wohnsituation angeht, sind viele mittlerweile angekommen. 2015 war die Lage anders: 2015 wurden Turnhallen zu Erstaufnahmeeinrichtungen umfunktioniert. Weil das oft nicht ausreichte, wurden Zeltstädte errichtet, in denen Zehntausende bis zum Winter unterkamen. Hamburg und Berlin wandelten sogar leer stehende Gewerbeimmobilien zu Flüchtlingsunterkünften um.

Heute ist das alles fast vorbei. Zwar werden neu ankommende Asylsuchende auch weiterhin in einer sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Dort bleiben sie jedoch in der Regel maximal sechs Monate. Danach leben sie entweder in einer Gemeinschaftsunterkunft oder gleich in einer eigenen Wohnung. In den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland können die Bundesländer den Flüchtlingen vorschreiben, an welchem Ort sie wohnen müssen (Wohnsitzauflage). Nur wer einen Job hat, darf sich seinen Wohnort auch vorher schon selbst aussuchen.

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Was hat die Integration bisher gekostet?

Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Es ist kaum möglich, die genauen Kosten zu ermitteln, da Bund, Länder und Kommunen verschiedene Leistungen übernehmen und Geflüchtete auch Leistungen vom Staat erhalten, die für viele weitere Personengruppen gezahlt werden – Kindergeld zum Beispiel. 

2015 überboten sich Ökonomen mit Prognosen, wie hoch die Kosten ausfallen würden. Mal war von 50 Milliarden allein für Unterkunft, Verpflegung und Sprachkurse in den ersten zwei Jahren die Rede, mal von fast einer Billion Euro in den ersten sechs Jahren.

Am ehesten lassen sich die Ausgaben des Bundes ermitteln. Aus Bundesmitteln werden die Asylverfahren, die über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgewickelt werden, bezahlt – ebenso wie all die Maßnahmen und Leistungen, die über die Bundesagentur für Arbeit zur Integration auf dem Arbeitsmarkt erfolgen. Die Länder und Kommunen organisieren daneben die Unterkunft und Integration vor Ort, wofür der Bund Zuschüsse gibt. 2018 erhielten die Länder und Kommunen für Flüchtlings- und Integrationskosten vom Bund rund 7,5 Milliarden Euro. Davon werden allerdings auch Dinge bezahlt, die wie der soziale Wohnungsbau oder der Ausbau der Kinderbetreuung auch anderen Bevölkerungsgruppen, also nicht nur Flüchtlingen, zugutekommen.

Darüber hinaus gab der Bund 2018 weitere 15,5 Milliarden Euro für die von ihm zu tragenden Aufgaben aus. 7,9 Milliarden Euro davon entfielen jedoch auf die Fluchtursachenbekämpfung, wurden also nicht für Flüchtlinge im Inland ausgegeben. Zum Vergleich: die Gesamtausgaben des Bundes lagen bei 341 Milliarden Euro.

Experten des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) hatten zunächst angenommen, dass mindestens 20 Milliarden Euro Kosten pro Jahr anfallen würden. Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte sogar noch eine EU-weite Benzinsteuer in Betracht gezogen, um die Kosten für die Flüchtlingskrise kompensieren zu können. Das war, so zeigt die Bilanz, nicht nötig: Trotz der Ausgaben für die Integration erwirtschaftete Deutschland immer einen Haushaltsüberschuss. Auch die von der Bundesregierung gebildete Flüchtlingsrücklage in Höhe von mittlerweile 35 Milliarden Euro wurde bisher nicht angetastet. 

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Ist die Kriminalität in Deutschland durch den Zuzug der Flüchtlinge gestiegen?

Rechtspopulisten und Neonazis benutzen tatsächlich oder vermeintlich kriminelle Flüchtlinge stets für ihre Forderung nach einer schärferen Asylpolitik. Spätestens nachdem in der Kölner Silvesternacht 2015 Hunderte Männer, darunter viele Asylbewerber, Frauen belästigt und beraubt hatten, wurde auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, welche Gefahr von den Flüchtlingen ausgehe. Erst im Juli dieses Jahres hat die AfD-Fraktion im Bundestag erneut eine kleine Anfrage zur Kriminalität gestellt, die noch unbeantwortet ist.

Dabei stehen die meisten der Daten öffentlich längst zur Verfügung: Vergleicht man alle in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) erfassten Straftaten aus dem Jahr 2013 mit den jüngsten Zahlen von 2018 zeigt sich, dass vor dem Zuzug der Flüchtlinge mehr Straftaten registriert wurden (etwa 5,96 Millionen) als vergangenes Jahr (etwa 5,56 Millionen). Zwischendurch gab es allerdings einen Anstieg, in den Jahren 2014, 2015 und 2016.

Dieser Anstieg, stellt das Bundeskriminalamt in seinem Bericht zur PKS 2015 fest, sei fast ausschließlich auf ausländerrechtliche Verstöße zurückzuführen, also unerlaubte Einreise oder unerlaubten Aufenthalt. Das sind Straftaten, die Deutsche nicht begehen können. Erstmals wurde 2015 deswegen auch die Zahl aller Straftaten um die ausländerrechtlichen Verstöße bereinigt dargestellt: Der zuvor sichtbare Anstieg war anschließend verschwunden. Zwischen 2014 und 2015 lag die Zahl aller Straftaten unverändert bei etwa 5,93 Millionen. Im Jahr 2016 sank sie sogar auf 5,88 Millionen. 


In der Debatte um angeblich kriminellere Geflüchtete geht es vor allem um die Gewaltkriminalität. Auch die war zwischenzeitlich leicht angestiegen. Anfang 2018 hatten die Kriminologen Christian Pfeiffer, Dirk Baier und Sören Kliem gezeigt, dass der Anstieg der Gewalttaten zwischen 2014 und 2016 tatsächlich zum größten Teil auf Flüchtlinge zurückführbar war, zumindest in Niedersachsen. Jedoch sinkt die Gesamtzahl der Gewalttaten bundesweit seit 2017 wieder leicht. Sie lag 2018 nur etwas höher als 2013 und befindet sich auf einem deutlich niedrigeren Niveau als 2012. Dieser Rückgang ist aber eher darauf zurückzuführen, dass deutsche Staatsangehörige weniger Taten begangen haben (-2,3 Prozent). Die Zahl der Gewalttaten von Geflüchteten stieg hingegen von 2017 auf 2018 leicht um 1,4 Prozent beziehungsweise 390 Fälle. 

Gewaltkriminalität macht vielen Menschen aus nachvollziehbaren Gründen Angst. Allerdings bleibt dabei oft unberücksichtigt, dass nur drei Prozent aller registrierten Straftaten Gewalttaten sind.

Schaut man also auf die Zeit seit Ankunft der Flüchtlinge, wird deutlich: Insgesamt ist die Kriminalität nicht gestiegen. Es ist aber möglich, dass sie ohne ihren Zuzug noch stärker gesunken wäre.

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Wie läuft die gesellschaftliche Integration der Geflüchteten?

Integration heißt auch, sich ein soziales Leben aufzubauen. Freunde finden, eine Familie gründen. Ein Indiz dafür, dass sich Geflüchtete eine Zukunft vorstellen können in ihrer neuen Heimat, ist der Wunsch zu heiraten. Gerade für Menschen aus Syrien oder Afghanistan, den Ländern, aus denen die meisten Menschen zu uns gekommen sind, hat die Ehe einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. "Bei uns heiraten wir, bevor wir ein richtiges Paar sein können", sagt Krishma. Die 23-jährige Afghanin lebt in Berlin und ist seit drei Wochen verlobt. Im Deutschkurs hat sie Omar kennengelernt, einen jungen Mann aus Kunduz. Jetzt wollen sie heiraten. Aber vorher hat Krishma viel zu tun.

Omar und Krishma haben sich verlobt. © privat

Jeder, der in Deutschland gemeldet, volljährig und geschäftsfähig ist, darf heiraten, also auch Flüchtlinge und Asylbewerber. Nur ist es für ausländische Staatsbürgerinnen um einiges aufwändiger als für deutsche. Viele Papiere müssen vom Herkunftsland ausgestellt und dann ins Deutsche übersetzt werden. Krishma braucht ihren afghanischen Pass, ihre Geburtsurkunde und ein sogenanntes Ehefähigkeitszeugnis. Darin müssen die afghanischen Behörden bestätigen, dass Krishma ledig ist und dass nichts gegen eine Ehe spricht. Sie hat keines dieser Dokumente. Bis jetzt ist alles, was sie besitzt, eine Tazkira, ein afghanischer Personalausweis. 

Wie viele Geflüchtete in Deutschland heiraten, wissen wir nicht. Aber die Standesämter erfassen die Nationalitäten der Ehepartner. Und zumindest eines zeigen die Zahlen: Seit mehr Afghanen bei uns leben, heiraten auch mehr von ihnen. Und es steigen nicht nur die Zahlen derer, die eine Deutsche oder einen Deutschen heiraten, was ihnen nebenbei einen gesicherten Aufenthaltsstatus verschafft. Sondern auch die Zahl der afghanisch-afghanischen Ehen. 2018 ließen sich insgesamt 410 Afghaninnen und Afghanen trauen, 225 von ihnen haben einen Deutschen oder eine Deutsche geheiratet, 144 einen afghanischen Partner.

Auch die Eheschließungen von Syrern sind seit 2015 deutlich angestiegen. Im Jahr 2018 haben 2.780 Syrerinnen und Syrer geheiratet, die meisten von ihnen eine Partnerin oder einen Partner aus dem gleichen Herkunftsland: 988 Syrerinnen haben einen Syrer geheiratet. 602 deutsch-syrische Ehen wurden geschlossen und 202 Syrerinnen und Syrer heirateten Menschen aus anderen Ländern.

Eine Ehe ist ein Versprechen. Häufig verbunden mit der Hoffnung auf eine gute, gemeinsame Zukunft. Krishma und Omar wollen in Deutschland eine Familie gründen. Bisher hat sich Krishma vor allem um die Belange ihrer Eltern und Brüder gekümmert. "Jetzt möchte ich etwas für mich tun", sagt sie.

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Wie sind die geflüchteten Kinder in der Schule angekommen?

Integration kann nur gelingen, wenn die Kinder gut in die Schule integriert sind. Deutschland hatte einst viele Fehler gemacht mit den Kindern der sogenannten Gastarbeiter. Sie schnell unter deutschen Kindern zu unterrichten, war damals gar nicht das Ziel, dachte man doch, sie würden das Land bald schon wieder verlassen. Wie ist es nun gelaufen mit den Flüchtlingskindern? Die Herausforderungen waren jedenfalls groß.

2015 waren rund 200.000 schulpflichtige Flüchtlinge in Deutschland angekommen, 2016 kamen noch etwa 130.000 dazu. Die Schulen haben enorm viel geleistet: Mehr als 90 Prozent von diesen Schulpflichtigen waren schon 2016 im hiesigen Bildungssystem angekommen – das zeigt eine Kurzanalyse des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des BAMF von 2019. Zwei Drittel der Flüchtlingskinder wurden an den allgemeinbildenden Schulen unterrichtet, 16 Prozent machten eine Berufsausbildung oder lernten an einer Berufsschule. Und das, obwohl es an allem mangelte: an Raum, an Lehrern, an Materialien. Vieles wurde mit Engagement wettgemacht. Nach und nach haben viele Bundesländer laut des Mediendienstes Integration für die Zuwandererkinder auch neue Lehrer für "Deutsch als Zweitsprache" eingestellt. In Schleswig-Holstein hat sich ihre Zahl bis 2017 zum Beispiel nahezu verdoppelt.

Und trotzdem ist längst noch nicht alles perfekt. Viele der Flüchtlingskinder besuchen zunächst eine Vor-, Sprachlern- Willkommens- oder Internationale Klasse (sie heißen unterschiedlich in den Bundesländern), in der sie Deutsch lernen, bevor sie in den Regelunterricht wechseln. Am Anfang saßen dort 13-jährige Analphabeten neben Sechsjährigen aus gebildeten Familien. Manchmal blieben die Kinder und Jugendlichen dort ein oder sogar zwei Jahre und länger. Und das kann zum Problem werden.

Nicht selten passiert es, dass die Kinder in den Schulen nebenherlaufen, etwa beim Sportfest vergessen werden und so auf dem Schulhof die Außenseiter bleiben – und deshalb zu wenig Deutsch mit den anderen Kindern reden. Der Übergang in die Klassen verläuft dann oft holprig.

In manchen Bundesländern werden Kinder sofort in die Regelklassen aufgenommen und bekommen nebenbei mehr oder weniger Deutschunterricht. Je kleiner die Kinder sind, umso besser funktioniert das. Einige Schulen habe sich für Mischformen entschieden: Die Kinder sind dann gleich zu Beginn in bestimmten Fächern wie Sport, Musik und Englisch in den Regelklassen, um gleich dazuzugehören. In der restlichen Zeit lernen sie Deutsch. Sie wechseln dann nach und nach auch in den anderen Fächern in die Klassen. Sprachlernforscher wie Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Uni Köln, halten diese Form der Integration für besonders vielversprechend. 

Probleme zeigen sich – wenig erstaunlich – vor allem bei den älteren Kindern. So schafften es laut Kurzanalyse des BAMF viele Jugendliche über 15 Jahren gar nicht in den normalen Unterricht. Geflüchtete Jugendliche lernen auch deutlich häufiger als andere Kinder in Deutschland an der Hauptschule. Kein Wunder, sie haben oft schlechtere Bedingungen, konnten etwa im Heimatland nur selten eine Schule besuchen, haben dort und auf der Flucht Traumatisches erlebt oder müssen in Deutschland ohne ihre Eltern leben.

Doch auch bei den Flüchtlingskindern zeigt sich das größte Manko des deutschen Bildungssystems: Wer gebildete Eltern hat, kommt aufs Gymnasium, die anderen haben weniger Chancen.

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Wie ist die Präsenz der Geflüchteten an Universitäten?

Jedes Semester immatrikulieren sich mehrere Tausend Geflüchtete an deutschen Hochschulen und Universitäten. Allein im Wintersemester 2018/19 waren es 3.788. Das sind ungefähr 18-mal mehr als im Wintersemester 2015/16, in dem nur 205 Studienanfänger Geflüchtete waren. Und die Tendenz ist weiter steigend: Zwischen den Wintersemestern 2017/18 und 2018/19 hat sich die Zahl der neu eingeschriebenen Geflüchteten nahezu verdreifacht. 17 Prozent der Geflüchteten hatten bereits ein Studium oder eine Ausbildung in ihrer Heimat abgeschlossen, als sie nach Deutschland kamen, so die Ergebnisse einer Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Bnana Darwish gehört zu den acht Prozent der Geflüchteten, die in ihrem Heimatland bereits ein Studium begonnen hatten und es nach ihrer Flucht in Deutschland fortführen wollen. 2013 floh Bnana Darwish aus Syrien. Heute studiert sie in Stuttgart Architektur.


Bnana Darwish: 2013 floh sie aus Syrien. Heute studiert sie in Stuttgart Architektur.

"Wenn ich meinen Abschluss habe, möchte ich gern in Deutschland arbeiten, damit ich dem Land etwas zurückgeben kann", sagt sie.

Darwish studierte im vierten Semester Architektur, als ihre Uni im März 2013 in Damaskus mit Granaten beschossen wurde. Mit ihrer Familie – ihrem Vater, zwei Brüdern und zwei Schwestern – floh sie nach Libyen. Dort in Tripolis fanden weder der Vater noch die Brüder Arbeit. Also bewarb sie sich für ein Stipendium, im März 2014 kam sie über die Internationale Organisation für Migration (IOM) nach Deutschland. Heute studiert die 29-Jährige in Stuttgart: Ihren Bachelorabschluss hat sie mit der Note 2,4 bestanden, mittlerweile steht sie kurz davor, auch ihren Masterabschluss in Architektur zu machen.

Wie viele der Geflüchteten genau in Deutschland studieren, ist durch keine Statistik belegbar, denn jede Universität oder Hochschule dokumentiert die Herkunft ihrer Studierenden anders. Der Stifterverband und die Unternehmensberatung McKinsey prognostizierten jedoch in einer Studie, dass 2020 bis zu 40.000 Geflüchtete an deutschen Hochschulen oder Universitäten eingeschrieben sein könnten. Wenn finanzielle Hürden abgebaut und gesundheitliche und vor allem sprachliche Probleme ausgeräumt würden, könnten es auch mehr als doppelt so viele sein, heißt es.

Auch für Darwish war die Sprache das größte Problem: Sie hatte in einem Integrationskurs zwar Deutsch gelernt, doch das Akademikerdeutsch, das sie für ihr Studium braucht, musste sie noch mal neu lernen. Bnana Darwish möchte nach ihrem Masterabschluss in Deutschland bleiben und im Bereich Nachhaltigkeit und Stadtplanung forschen, vielleicht sogar promovieren. "Ich will mich hier bilden und weiterentwickeln", sagt sie. Ihre Zeit in Deutschland sieht sie als Chance, die nur wenige bekommen.

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Wie steht es um die deutschen Sprachkenntnisse der Geflüchteten?

Die Zahlen aus dem April machten Schlagzeilen: Rund die Hälfte der Zugewanderten, die 2018 erstmals einen Sprachkurs absolvierten, haben ihn nicht erfolgreich beendet. 51,5 Prozent verfehlten das Kursziel Sprachniveau B1. Das bedeutet: sie können kein Gespräch über vertraute Themen führen und sich nicht über Alltagssituationen verständigen. Vor drei Jahren lag die Quote knapp über einem Drittel.

Was bedeutet das genau? Gelingt es immer schlechter, den Geflüchteten, die in Deutschland leben, Deutsch beizubringen?

Nein, sagte Elke Breitenbach, Vorsitzende der Konferenz der Integrationsminister und Berliner Senatorin für Integration im Interview im April. Die Sprachkurse erreichten heute einfach andere Menschen. "Vor zwei Jahren", sagte Breitenbach, "hatten wir in den Sprachkursen etwa zehn Prozent Analphabeten sitzen, heute sind es 30 Prozent. Dazu kommt, dass die Menschen aus dem arabischen Raum komplett neue Schriftzeichen lernen müssen." 

Die Zahlen stammen aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des AfD-Abgeordneten René Springer. Nachdem sie veröffentlicht wurden, geriet das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das die Deutschkurse finanziert, in die Kritik. Breitenbach räumte damals ein, dass die Qualität der Kurse, die meist von privaten Anbietern durchgeführt werden, sich verbessern muss.

Wie beurteilt Elke Breitenbach die Situation heute? Sie ist kritisch. "Der Bund hatte zugesagt, die Qualität der Kurse zu verbessern und sie mehr Geflüchteten zugänglich zu machen. Diese Zusage wurde nicht eingehalten", sagt sie. Mit dem im Sommer verabschiedeten Gesetzespaket zu Asyl und Zuwanderung habe es einzelne Verbesserungen gegeben, aber viele geflüchtete Menschen seien von den Sprachkursen ausgeschlossen. "Das ist ein großer Fehler. Wir werden aber nicht nachlassen, hier Verbesserungen einzufordern, und unseren Beschluss der Integrationsministerkonferenz weiterverfolgen."

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Wie steht es um die Willkommenskultur?

Fotos von freiwilligen Helfern, die im Sommer 2015 Migranten am Münchner Hauptbahnhof in Empfang nehmen, prägen bis heute das Bild des flüchtlingsfreundlichen Deutschlands. Doch parallel dazu wuchs deutschlandweit auch der Hass auf Geflüchtete – und die Sorge, dass sich Gewaltexzesse gegen Asylbewerber, wie in den Neunzigerjahren etwa in Rostock-Lichtenhagen, wiederholen könnten. Die Zahlen sind bedrückend: Im Jahr 2015 wurden pro Tag durchschnittlich drei Straftaten gegen Flüchtlingsheime verübt. Seither ist die Gewalt zwar rückläufig, aber auch in den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es im Schnitt noch alle drei bis vier Tage Straftaten gegen Unterkünfte. Anfeindungen oder Angriffe auf Asylbewerber passieren täglich. Mit der "Gruppe Freital" und "Revolution Chemnitz" haben sich außerdem in den vergangenen Jahren mindestens zwei Terrorgruppen gebildet, die sich gegen Geflüchtete richteten.

Zwar hat eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung ermittelt, dass die Menschen hierzulande Migration inzwischen wieder etwas positiver sehen, doch skeptische und ablehnende Sichtweisen erhalten in der Bevölkerung nach wie vor im Vergleich eine höhere Zustimmung.

Ist die Willkommenskultur vier Jahre nach Merkels Aussage, "Wir schaffen das", Gewalt und Anfeindungen gewichen? Manuela Bojadžijev, die als Professorin für Globalisierte Kulturen an der Universität Lüneburg zu Migration und Rassismus forscht, spricht in diesem Zusammenhang von einer erstarkten Ablehnungskultur.

ZEIT ONLINE: Frau Bojadžijev, hat die Gesellschaft in der Debatte um Flucht und Integration darin versagt, sich stärker gegen rassistische Hetze und Gewalt zu wenden?

Manuela Bojadžijev: Nein, die Gesellschaft hat sicher nicht versagt. Es gibt ja unzählige Initiativen wie etwa #unteilbar oder all die Organisationen, die Opfer rassistischer und antisemitischer Gewalt schützen. Deren Anstrengungen müssen wir noch stärker unterstützen. Spätestens der Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke in Hessen hat offenbart, dass Gewalt alle treffen kann, die sich einem rechtsextremen Gesellschaftsprojekt in den Weg stellen.

ZEIT ONLINE: Sie sprechen davon, dass eine Ablehnungskultur in Deutschland entstanden ist. Was bedeutet das genau?

Bojadžijev: Es geht um eine Alltagskultur, in der die Ablehnung von Einwanderung gelebt wird. Die Vorfälle in Chemnitz vor einem Jahr zeigen gut, was ich damit meine: Weil ein irakischer Asylbewerber mutmaßlich den deutsch-kubanischen Tischler Daniel H. getötet hat, organisiert sich eine komplette Bewegung, die mit Hetzjagden auf Migranten beginnt und am Ende in fremdenfeindlichen Alltagskulturen aufgeht. In Sportvereinen oder anderen sozialen Gruppen wird es dann auf einmal selbstverständlich, dass man eine aversive Einstellung gegenüber Migration pflegt – und damit alles erklärt, was in der Gesellschaft schiefgeht.

ZEIT ONLINE: Hat denn der Rassismus in Deutschland seit 2015 Ihrer Ansicht nach zugenommen?

Bojadžijev: Das lässt sich nicht eindeutig messen, aber Rassismus ist sicher akzeptabler geworden als er eine Zeit lang war – sowohl in der Sprache, in Form von Gewalt und darin, wie tief er in den Institutionen und der Gesellschaft verankert ist. Wenn wir uns dagegen wenden wollen, müssen wir besser verstehen und zugleich denunzieren, was ihn in der Breite akzeptabel macht.   

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